3. April 2017

735. Moskauer Tauwetter oder Московская оттепель (1953-1968)



Dies wird natürlich sicher kein Wetter- oder Klimabericht. 

Die sowjetische Tauwetterperiode setzte ein nach dem Tod Stalins (1953) und überdauerte die Absetzung Chruschtschevs durch seinen Nachfolger Breshnev (1964) noch für einige wenige Jahre. In diesen 10-15 Jahren entwickelten Künstler, Architekten und auch Politiker in der bisher erstarrten Sowjetunion eine bisher unbekannte Lockerheit, die von der Bevölkerung sofort aufgenommen wurde. Es ging ihnen auch wirtschaftlich besser ("Gulasch-Kommunismus"), und der technologische Fortschritt kam vielen zu Gute. Es zwitscherte ja nicht nur der Sputnik durch's All, es gab auch bunte (Polyester-)Kleider und stählerne Eisbecher mit beigem Bakelit-Stiel!

Das Moskauer Museum mosmuseum.ru hat dieser Periode eine kleine Ausstellung gewidmet, die wie ein Eintauchen in die eigene Jugend wirkte. Auch meine Eltern waren doch stolz auf heute untragbare Polyesterkleider und -hemden, und Nierentische mit nadelspitzen Beinen!

Die in dieser Tauwetterperiode erzeugten Bilder zeigten erstmals "ganz normale" Menschen in ihrem Alltag und ihren Konflikten und ihrer Freude. Davor wurde nicht gelacht auf den Bildern, man putzte sich nicht eitel für den Tanz, und die Strassen waren immer sauber. Nur Helden schafften es auf die Leinwand!

Junge Frauen auf dem Weg zum Tanz, selbstbewusst über den mit Brettern verdeckten Dreck stöckelnd.

Elektronische Entwicklungsarbeit im Labor, und Bauersfrauen im zeitgenössischen Film.

Blogautor mit einem super-schickem erdgrauem "Moskvich 403" Strassenkreuzer

Wohnungspläne für Familie (li) und kinderlose Ehepaare (!), beide mit Fläche von 54 m2

Die Tauwetterperiode war auch eine Zeit der Entkrustung der Architektur, die Abkehr der stalin'schen "Kommunalka" (mehrere Familien in einer Wohnung mit gemeinsamer Küche, Toilette, etc) hin zu einem mehr individuellen Lebensstil der modern geschnittenen und in internationalem Chic möblierten Familienwohnung. Die Chruschtschov-Häuser waren nicht direkt schön, aber hoch attraktiv. Und wenn ich es mir recht überlege, viele Jahre meiner Kindheit verbrachte ich in einem sehr ähnlichen Gebäude ...

Eine ganz eigentümliche Bilder-Konstellation des Kurators gab mir eine starke Assoziation: Der am Kran hängende Plattenbau-Container neben den Gemälden von Eiern liess mich die Wohnungselemente als schützende, immer gleich aussehende "Eizellen der Gesellschaft" sehen.

 

 

Die Tverskayastrasse im Zentrum Moskaus (Photo 2017 vs. Gemälde 1960, damals noch Gorkistrasse genannt) hat sich doch in den knapp 60 Jahren kaum verändert: rasende Autos brausen durch die Allee, buntgekleidete Spaziergänger flanieren auf breiten Trottoirs. OK, zugegeben: das Orange der modernen "Flaneure" waren beim Schnappschuss gestern  eher Kittel der Strassenreinigung. Aber sonst ...

Wenn man in einer der abgedunkelten Musik-Kabinen sass und zeitgenössischem Jazz lauschte, wurde man sogar selber "besichtigt": 

 

Fun Fact: Chruschtschev bei seiner berühmten Schuh-Rede in der UNO: "Nyet!" 


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