Vielleicht ist dieser Blog der Anfang eines wunderbaren neuen Hobbys: Mikrogeschichte. Das wäre Erkundung von Geschichte nicht in ihren grossen Zügen, Zahlen und Personen (Schisma, 44 vor, 1822, Hannibal, Napolen, et al.) sondern in der persönlich unmittelbaren Umgebung und Wirkung. Ein paralleler Blog ist schon eingerichtet, aber noch nicht gefüllt und schon gar nicht öffentlich. Interesse?
Heute früh am Morgen ging ich durch die Bryusov-Gasse, ganz zentral in Moskau. Sie ist nur etwa 800 Meter lang, eine ruhige Seitengasse abseits der Hauptstrasse und Motorradrennstrecke Tverskaya.
Der Namensgeber Yakov Bryus (er war eigentlich schottischer Graf und hiess Jacob Bruce) lebte in der Gasse im noch gut erhaltenen Eckhaus 1A zur Bolshaya Nikitskaya. Er war 1687-1721 unter Peter dem Grossen ein bedeutender Militärführer (u. a. auf der Krim und bei den Azov-Feldzügen!), aber auch Astronom und Alchimist. Er baute u.a. 1702 das erste Moskauer Observatorium in einem neuen Turm der Kremlmauer, und seine Bibliothek umfasste 1500 Bücher!
In dieser Bryusov-Gasse also soll Dmitri Shostakovich gelebt haben, dessen Musik ich schätze. Ich wollte das Haus finden, in dem er lebte. Um es kurz zu machen: ich fand es nicht. Keine der sonst so zahlreichen Bronzetafeln trug seinen Namen. Es ist aber belegt, dass er hier war, im Haus der Komponisten (Bryusov 8) im Jahr 1948 musste er zusammen mit Sergei Prokofiev und Aram Khachturian eine Entschuldigung für ihr "formalistisches" Schaffen vor dem ZK der KPdSU verlesen.
Aram Khachaturian ist da schon präsenter, allein schon durch das unvermeidliche Mega-Denkmal des allgegenwärtigen Tchugashvili
und eine kleine Bronzetafel am Haus der Komponisten:
Haus Nr. 7 wurde 1935 erstellt, im Auftrag der Regierung für verdiente Künstler und realisiert durch den Architekten Aleksey Zhusev, der schon das Lenin-Mausoleum, die Lublyanka und die Metrostation Komsomolskaya geplant hatte. Bewohnt wurde es durch Künstler des nahen Bolshoi-Theaters oder des Tchaikovskiy-Konservatoriums, zB Sergei Vasilenko (1872-1956, Komponist):
Auch Maria Maksakova Sr. (Mezzo-Sopran, 1902-1974), dreifache Trägerin des Stalin-Preises und eine der wenigen sowjetischen Künstlerinnen, die im Ausland auftreten durften:
Die Nachbarin war die Harfenistin Ksenia Erdeli (1878-1971), die 20 Jahre lang Solistin am Bolshoi war, am Konservatorium unterrichtete, und dabei half eine qualitativ hochwertige sowjetische Harfenproduktion ("Selena") aufzubauen.
1935 bis 1964 lebte in der Bryusov Nr 7 auch der Opernsänger Alexander Pirogov, der 1924 -1954 einer der meistbesetzten Bassisten am Bolshoi war, in der Paraderolle des Boris Godunov.
Fedor Fedorovich Fedorovskiy (welch Name!) wohnte zeitgleich bis zu seinem Tod im Haus. Er war Bühnenbildner.
Weiter zum Haus der Komponisten, Nr 12. Hier wohnte der Violinist Leonid Kogan, ein Freund David Oistrachs und Maria Callas'. Sein kraftraubendes Spiel wurde als "kaltes Feuer" bezeichnet.
Auch der Chor-Komponist und -Dirigent Vladislav Sokolov (1908-1993) wohnte hier.
Vasiliy Tikhomirov war Solotänzer und Choreograph am Bolshoi. Immerhin, man findet schon (alte) Videos von ihm und seiner Partnerin (doppelter Wortsinn!) Yekaterina Geltzer auf YouTube!
Ein kleines, von seiner Enkelin gepflegtes Museum im Haus 12, ganz nah an der Tverskaya, erinnert an den dort 1928-1939 wohnenden Schauspieler Vsevolod Meierhold (1874-1940). Er ging nicht "nach Canossa" und widerrief nicht seine künstlerischen Grundsätze - er verschwand 1939 beim KGB in der nahen Lublyanka und wurde 1940 dort hingerichtet.
Diese Metalltäfelchen erinnern an in Ungnade gefallene Hausbewohner (hier Haus 17). Sie sind nicht so opulent wie die Tafeln der Stalin-Preisträger. Sie geben die Namen, Beruf, Daten der Geburt, der Verhaftung, der Freilassung und der Rehabilitation an. Nicht-Rehabilitierte haben wahrscheinlich immer noch keine Chance auf Täfelchen ...
Und das ist sie, die oben bereits erwähnte Yekaterina Geltzer! Nach der Scheidung zog sie wohl ins Haus 17 schräg gegenüber.
Mstislav Rostropovich ist den Cello-Spielern unter uns ja bekannt. Das Denkmal steht gegenüber der Wiederauferstehungskirche von 1629, eine der ganz wenigen Moskauer Kirchen, die 1917 nicht geschlossen wurden. Das Denkmal wurde 2012 durch Putin eingeweiht!
In der Parallelstrasse zur Bryusov (Voznesenskiy 9) hängt diese Bronzetafel, die an die Lesung des "Boris Godunov" durch Aleksander Pushkin im Jahr 1829 in diesem Haus erinnert. Boris Godunov erschien in der kompletten Version im Jahr 1825. Pushkin wohnte hier auch, 1930.