22. Mai 2017

742. Dia-Abend für's Ich?

Die 68er Bewegung, dieser "Ruck" im Europa vor knapp 50 Jahren, gerät angesichts des dräuenden Jubiläums wieder in die Titel der Feuilletons namhafter Zeitschriften. Allein das müsste einem schon zu denken geben, ob wir uns die Zukunft damals so vorgestellt hatten. 

Ich selber war ja noch jung, damals. Aber politisiert hat es mich, in der Folge sogar allzu gründlich. Die Schwarzweissbilder von auf Studenten einschlagenden Polizisten mit ihren merkwürdigen Uniformkappen erregten ein Gefühl der Ungerechtigkeit, ja Widerspruch. Irgendwas stimmte einfach nicht, die durften das nicht. Warum machten die das dann?

Am deutlichsten erinnere ich mich an die "Prügelperser" anlässlich des Schah-Besuchs. Perser (heute: Iraner) kannte ich persönlich: Wir hatten oft persische Studenten zu Hause zu Besuch, die so sagenhaft freundlich waren und oft Tüten voller Pistazien mitbrachten. Und dann sah man diese Bilder der "Prügelperser", die mit Dachlatten und Knüppeln auf Demonstranten einschlugen, unter dem Schutz der deutschen Polizei auf deutsche Demonstranten. Waren das denn auch Perser, was unterschied sie von den freundlichen Studenten? Da kamen viele Fragen auf, die nicht besprochen, gar beantwortet wurden. Als ich anfing Antworten zu suchen, für mich selbst zunächst, kam eine Perspektive zur nächsten, ungelenkt und krud. 

Und jetzt "gedenkt" man dieser Zeit. Es drohen Kranzniederlegungen, echte und auf Papier als Autobiographien. 

Es beschleicht einen das Gefühl, dass die heutigen Obererinnerer die damaligen "Vordenker" sind, einige wenige entscheidende Jahre älter als ich, positionsfest und wortstark. Der Kölner Sänger Peter Licht sang dazu ("Ihr lieben 68er"):

Und macht euch noch eine schöne Zeit
Und erzählt euch untereinander wie das alles so war
Ihr könnt auch einen Dia-Abend machen
Einen Dia-Abend von der Revolution
Und da sitzt ihr dann alle
Und erzählt euch untereinander wie das alles so war
Bildet Netzwerke für eure Dia-Abende!


Wer gerne seine alten Dias ansehen möchte, kann dies tun, gerne auch im Kollektiv. Aber zwingt sie uns nicht auf, eure Sicht der Erinnerungen. Euer Erfolg ist nicht der Erfolg, den viele damals erhofften. Wir wollten eine sozialere Welt, und erreicht haben wir eine Ich, Ich-und-Ich-Gesellschaft. 

Unser Reflex auf  gemütliche Dia-Abende mit Knabberzeugs hat sich nicht geändert. 

11. Mai 2017

741. V&A

 

Das Victoria and Albert Museum liegt gleich gegenüber des Natural History Museum (ja, das mit dem ganzen Blauwalskelett!) in der Cromwell Road, es nennt sich selbst am liebsten V&A. Das Museum bietet freien Eintritt und scheint sich in grossen Teilen einem Lehrauftrag zu widmen (Computer-Workstations, Exponat-Suchfunktionen, Visiting Artists, etc). Für uns Neulinge war nicht sofort erkennbar, so dass uns die Exponate wild durcheinander gewürfelt erscheinen (ist ja auch komisch, wenn in einem Museum die Keramiken wie im Küchenschrank übereinander gestapelt in Vitrinen stehen ...). Das ist aber gar keine Willkür sondern die Präsentation des gesamten Fundus: die Schaukästen fassen Gemeinsamkeiten in Material, Künstler, Verarbeitung oder Nutzung zusammen, und stellen Fachleuten zur Verfügung. Da muss man dann mitdenken, holla die Waldfee!

Hier die Möbelabteilung. Da steht dann schon mal ein Intarsiensekretär neben einem orangenen Panton-Stuhl!


Ganz cool war die Suchmaschine für Werkstoffe. Neben einem Hallenplan standen Blöcke verschiedener Hölzer, Metalle und Kunststoffe mit Sensoren, und wenn man den Finger auf den Sensor im Birkenholz legte, wurden auf dem Hallenplan die Lage der Birkenholz enthaltenden Exponate angezeigt. 

 

Es gab Stuhlmodelle zum Probesitzen (Thonet fiel durch!):

 

Die Etagen waren auch schon mal optisch getrennt durch gequetschte Musik:

 

Unsere gewählten Ziele waren die Abteilungen für Keramik und Glas, die natürlich oben im 6. Stock lagen. Treppenhäuser und Lifte sind rar und verwirrend (z.B. gibt es keinen zugänglichen 5. Stock). Aber wir arbeiteten uns vor bis Wedgwood und Konsorten. Allerdings war die moderne Keramik beeindruckender. 

 

 

Die Glasabteilung zeigte Glaskunst über 3500 Jahre, auch hier wieder in überbordender Vielzahl. 

 

 

  

In der Asienabteilung auf dem Rückweg sahen wir zwei sehr ungewöhnliche "Zeitgenossen", einmal ein Gemälde aus Tibet von 2015, und einmal "live" vom Mai 2017. 

 

 

Das Victoria and Albert Museum ist heute fast auf den Tag genau 150 Jahre alt, das Schäufelchen der Grundsteinlegung zeigt das Datum vom 20. Mai 1867.

 

740. "All artifacts are designed by someone."

Der Titel des Posts wurde leicht abgewandelt vom Motto der Architekturabteilung des Victoria and Albert Museums, das im Post 741 beschrieben werden wird:

 

Das London Design Museum ist in einem nagelneuen Bau nahe dem Holland Park untergebracht. Fachleute (z.B. der befragte lokale Designstudent N.) halten den Bau und das neue Konzept für misslungen. Ich fand den Bau zwar architektonisch anspruchsvoll, aber sich in den Bordergrund stellend und  narzistisch, die Ausstellungen in Kammern im 4 . Stock oder Sousterrain verbannend und damit vernachlässigend. 
Das Kuppeldach vom Treppenhaus gesehen:

 

Wir besuchten die freie Ausstellung "Designer - Maker - User", deren exemplarische Marken Braun, Sony und Apple waren. Alle drei wegweisend im Industriedesign, allerdings nur im grossen Stil erfolgreich falls sie die Diversifizierung vom carrier design ins content management geschafft haben. 
Die Logos:

 

Die Geräte: 

 

Eine Kollektion im Eingangsbereich zeigt, dass Industriedesign überall eine Rolle spielt (siehe Titel!)

 

Und bewegte Bilder gibt es auch. 

2. Mai 2017

739. Der "Lauf des Lebens"

Eine Moskauerin sagte uns einmal bei der Durchfahrt, die Bolshaya Pirovskaya Strasse hiesse im Volksmund auch "Lauf des Lebens", da an ihrem Beginn eine Kinderklinik stünde, dann die Institute der Medizinischen Akademie die Strasse säumen, um zuletzt stimmig am Novodevichy-Friedhof zu enden. 


Wir fuhren mit einem der funkelnagelneuen Busse der Moskauer Verkehrsbetriebe zum Ausgangspunkt des Spaziergangs. Sie bieten nicht nur ein hochfrequentes Innenstadtnetz (allerdings stauempfindlich!), sondern auch WiFi und - spezielle Sitzbezüge (sozusagen ein echter "Lokalbezug"!)

 

Schon nach 100 Metern ragt der aus rohem Basalt gehauene Leo Tolstoi massiv in den blauen Frühlingshimmel. Entdeckt ihr den Buben im Schatten des Titanen? 

 

Der Park war Treffpunkt von Kindern und von leibhaftig lächerlichen "eRockern" - kuttentragenden, bärtigen Rowdies auf eBikes mit Klingeln! 
Am Ausgang des Parks sahen wir etliche Familien mit Luftballons in einem riesigen Säulenbau verschwinden. War das etwa ein Tag der offenen Tür? Oder eine Dissertationsparty mit Freibier? Nichts von alledem: es war die Geburtsklinik, und die Familien erwarteten in der Lobby aufgeregt ihre neuen Familienmitglieder!


Der Komplex der Medizinischen Akademie streckt sich fast die ganze Strasse entlang. Auf der anderen Seite stehen dann Labore und andere Kliniken. 

Das Medizinhistorische Museum mit der Büste des Namensgebers der Medizinischen Akademie, dem (Neuro-)Physiologen Ivan Sechenov (1829-1905). 

 
 
Statuen sind beliebt, hier (ganz faustisch mit Schädel in der Hand!) das Denkmal des Herrn Nikolai Semashko (1874-1949), der das Gesundheitswesen der jungen Sowjetunion aufbaute. Der Sozialdemokrat aus Kazan (wo Lenin studierte) traf sich auch später mit Lenin in Genf, und wurde mehrfach von der Schweizer Polizei verhaftet. 

 

Wir machten dann einen kleinen Abstecher zum Markt, kauften uns dort frisch zubereitete Smoothies in Glühbirnenflaschen, Apfel-Piroggen und Mohnschnecken. Und...

 

... tatsächlich hatten sie noch frische "Belper Knollen" aus der Schweiz! War da nicht was mit Importsanktionen? Ein würziger Genuss!

 

Im Hof des Orient-Museums am Nikitskiy Bulvar begrüsste uns wie immer der Elefant. 

 

824: „Muß di ni argern, dann geit di dat goot“

Sinnspruch an der Wand des Glücklichen Matthias : Darunter schmeckte uns Pannfisch und Schlemmerteller (nein, nicht der vom Horst!).  Danach...