Samstagmorgen: Berlitzzeit! Während Reida sich noch einmal umdrehen konnte, musste ich in die feindliche Umwelt, hinaus in den Regen und zur Lektion. Es war die letzte Stunde dieses Jahr, und Kasia gab sich alle Mühe. Sie machte sich (zu Recht) lustig über den Chef von Berlitz, der seinen Lehrerinnen und Lehrern nebst den Weihnachtsgrüssen ein Geschenk gegeben hatte: Ein Glas löslichen Kaffees! Das mag ja im Sozialismus eine tolle Gabe gewesen sein, lockt aber heute keinen mehr aus der Versenkung.
Danach holte ich Reida in der Romanowska ab, und wir gingen in die Stadt. Zuerst gab es Kultur: Der Poznanski-Palast mit dem Museum der Stadt Lodz. Der Palast (neben der Manufaktura, denn die heutige Manufaktura ist die einstige Poznanski-Textilfabrik) gibt schon einiges her, zeigt den Reichtum (und die Geltungssucht) eines Fabrikanten um die vorletzte Jahrhundertwende. Unten im Keller ist das Stadtmuseum, etwas eklektisch und sehr beengt. Den berühmten Söhnen der Stadt, allen voran Artur Rubinstein, wird ein Denkmal gesetzt.
In der Manufaktura-Mall machten wir - erschöpft vom Museum - erst mal eine Pause in meinem Kaffeehaus. Da liessen wir es uns gut gehen und beobachteten Passanten. Danach kauften wir für das Wochenende ein, beide etwas unsicher: Reida kannte sich nicht so aus, mir waren die 2-Personen-Mengen unheimlich, und beide, weil wir mit dem Geschmack aufeinander Rücksicht nehmen wollten. Aber am Ende hatten wir uns auf Lachs-Ricciutelle und eine echte Rindsbrühe geeinigt und alles dafür im Einkaufswagen.
Als wir dann heimkamen, wollte ich anfangen etwas für die Firma zu arbeiten. Ich drehte fast durch, als sich herausstellte, dass mein Laptop seine lokale Kopie der Arbeitsfiles verloren hatte, und dass ich nicht in's Internet kam um sie auf dem Firmenserver zu finden. Mir blieb also nichts anderes übrig als Reida alleine in der Wohnung zu lassen und den ganzen Abend (nach den Teigwaren) in der Firma zu arbeiten. Aber ich wurde noch vor Mitternacht fertig, da sass Reida auch noch hier an diesem Mac und suchte ein [unerwähnbares geheimes Geschenk] im Internet.
Heute schliefen wir erst mal aus, und als ich aus der Dusche kam, da stand das Sonntagsfrühstück schon auf dem Tisch. Das war schön! Wir wollten auf den jüdischen Friedhof gehen, und danach in die Stadt zum Bummeln. Zum Glück war es trocken, aber doch empfindlich kalt (vor allem im Wind!). Der jüdische Friedhof ist der grösste in Europa, und noch immer aktiv. Es ist ein riesiger Wald, voll mit alten Bäumen, Efeu, dazwischen Stelen und Platten. Wir gingen die Wege entlang durch das Dickicht und versuchten die Bilder und (hebräischen) Beschriftungen auf den Grabsteinen zu verstehen. Mitten in diesem Wald begegnete uns ein Mann, der uns ansprach woher wir kämen und sofort anfing, uns herumzuführen (er sprach Deutsch, Englisch und Polnisch dabei). Er hatte ein Grab geschmückt im Auftrag eines amerikanischen Freundes, dessen Grossvater im Lodzer Getto verhungert und dort beerdigt worden war. Ich machte ein Bild von ihm an diesem Grab, und er photographierte uns. Er wollte dann noch meine Adresse, um mir das Bild zu schicken, aber ich gab ihm eine falsche Anschrift (und fühlte mich schlecht dabei).
In der Piotrowskastrasse bummelten wir 50 Meter und kehrten dann sofort in die "Dekadencja" ein, ein Teehaus mit ganz viel Brokat und tiefen Sofas. Es war sehr gemütlich, aber Reida wurde trotz einer grossen Kanne Früchtetees nicht warm: sie sass die ganze Zeit in der Winterjacke da. Zum Tee wurden Orangenschnitze und ein Stück Schokolade gereicht, und es gab sogar einen (etwas komischen) Aufgesetzten mit Himbeergeschmack zum Kosten aus einem kleinen Fässchen (Selbstbedienung!). Dazu Weihnachtslieder bis zum Abwinken.
Der weitere Bummel auf der Fussgängerzone mit Andeutung eines Weihnachtsmarktes war dann eine zügige da zugige Sache. Nur eine Pause machten wir, um am einzigen lauten Stand (mit Polen aus den Beskiden in Tracht und mit einer gänzlich unweihnachtlichen Holzfanfare) den bestellten geräucherten Hartkäse zu kaufen. Und ich machte ein Photo von Reida zusammen mit Artur Rubinstein, bevor es anfing leicht zu schneien:
Abends gab es dann die Rindsbrühe mit viel Gemüse, auf die wir uns schon die ganze Zeit in der Kälte gefreut hatten. Und die Pomelo zum Dessert ist auch schon geschält ...
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