9. Mai 2015

Siegesfeier in Moskau

Ich hatte extra den späten Nachtflug von Frankfurt aus zurück gewählt, damit ich noch rechtzeitig zur Parade in Moskau bin. LH1472 war bis auf den letzten Platz ausgebucht, alles Russen mit möglicherweise der gleichen Absicht. Ich bekam ein Upgrade, und weil der Passagier neben mir nicht erschien, hatte ich die ganze Business-Reihe 1D-1F für mich zum Liegen! Luxus kann auch relativ sein!
Die Kehrseite kam dann, dass ich erst um Drei zu Hause ins Bett kam und der Wecker bereits um Sieben wieder klingelte! Kurz nach Acht (die Parade sollte um 10 Uhr beginnen, und nach den ganzen Drillübungen der letzten Wochen hatten wir keinen Funken Zweifel, dass sie das auch tut) verliessen wir das Haus - und sahen Augenblicke später schon das erste Absperrgitter zur Tverskaya hin, der grossen Aufmarsch-Strasse: Unpassierbar für Normalsterbliche ohne Einladung oder Spezialausweis. Wir marschierten hoch zum Pushkin-Platz, und fanden hinter dem obligatorischen Metalldetektor einen Platz in der Menge, vielleicht 10 Meter Menschenmenge bis zum Absperrgitter der Paradestrasse. Da waren andere wohl noch früher aufgestanden und hatten sich hingestellt, oder Aussichtspunkte wie Bäume, Mäuerchen oder Dixi-Klos besetzt ...

Da standen wir dann eingekeilt am Fleck, ohne Zeitgefühl und mit krampfenden Waden. Vor uns auf der Piste stand eine S-400-Lafette und eine Interkontinental-Yag-25-Rakete (und die standen auch noch da als wir wieder gingen, waren wohl Reserve, oder vielleicht defekt?).  Irgendwann wellte ein Hurra!-Schrei durch die Menge, eine Rede wurde undeutlich über die Lautsprecher übertragen, und die Nationalhymne gespielt. Zur folgenden, schmissigen Marschmusik gab es dann wohl die Show der 16'000 marschierenden Soldaten unten auf dem Roten Platz, da bekamen wir hier aber nichts davon mit. Einige der grünen Gefährte paradierten dann weit von uns entfernt vorbei, unsere Sicht versperrt durch Hunderte in die Höhe gereckte Smartphones oder - schlimmer - Tablets, und die Hintern der vor uns aufgeschulterten Kinder. Möglicherweise wäre es "smart" gewesen, wenn jeder Photograph nicht die lokale Originalsicht sondern den Bildschirm des Smartphone direkt vor sich gefilmt hätte: dann hätten alle eine Aufnahme aus der ersten Reihe gehabt ...
Aber die Flugzeuge direkt über unseren Köpfen waren gut sichtbar und eindrücklich. Warum nur fällt mir zu Helikoptergeschwadern immer der "Ritt der Walküren" aus dem Film "Apokalypse Now" ein?

Die Zuschauermenge löste sich kurz nach Elf auf und ergoss sich - bei strahlender und die uneingecremte Haut verbrennender Sonne - unter anderem in den Ringpark des Tverskoiy Bulvar. Dort ergatterten wir eine Sitzbank an einem beliebten Photo- und Selfie-Ort, und hatten viel Spass an der bunten Demonstration gelebter Vanitas. Wir hatten auch ein eher unangenehmes Erlebnis mit gelebter Hybris, als wir einen Geldschein verloren und eine Banknachbarin aus einer jungen Gruppe mit GoPro und Rucksack ihn offen aufhob (erst dadurch bemerkten wir dann unseren Verlust). Sie setzte sich wieder, legte den Geldschein neben sich auf die Bank, und schaute uns provozierend bei unserer Suche zu. Weil wir sofort Augenkontakt mit ihr fanden und das Geld ja neben ihr liegen sahen, ging ich rüber und fragte sie, ob sie Englisch spräche. Njet. Mühsam versuchte ich ihr unseren Wunsch nach Rückgabe des Scheins auf Russisch klarzumachen, merkte aber schnell, dass dies nur ihrem Vergnügen und unserer Erniedrigung diente. Als sie ihren Spass gehabt hatten,  hielt sie den Schein in die Luft (ein Wunder, dass er ihr nicht zufällig aus der Hand fiel!) und wir kommten ihn nehmen. Mit einer unfreundlichen russischen Frage und einer wischenden Handbewegung wurden wir wieder entlassen. So müssen sich Asylbewerber in Hoyerswerda und anderswo im Alltag auch fühlen, das Treffen mit Nationalisten ist nicht angenehm. 

Wenn ich das Erlebnis mit dem Geldschein so ausführlich schildere, dann soll das nicht den Eindruck einer durchaus harmonischen Veranstaltung im Park trüben. Aber es war eben eine Veranstaltung zum Ende eines Krieges, mit bewusst und massiv geschürter nationaler Erinnerung, und das hatte wohl alle erfasst. Es waren ja auch die Generationen unserer Väter und Grossväter, die diesem Volk 27 Millionen Tote brachten. Von daher ist es immer noch eine grosse Errungenschaft der letzten Jahre, als Deutsche in der friedlichen Menge stehen und der Parade zusehen zu können. Nur gerade wird das schwieriger, vielleicht werden wir jetzt mehr zu Ausländern ...





Einige Videos kommen separat. 

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