Dieser Eintrag wird etwas anders als üblich formatiert. Ich werde ihn - ganz modern - als
Live-Ticker aufsetzen und chronologisch datieren. Das suggeriert Authentizität und erzeugt dieses wohlige Eigentlich-bin-ich-fast-selber-mit-dabei-gewesen-Gefühl beim Leser.
00:24 Uhr
Endlich weiss ich wo morgen der richtige Eingang in den Kolomenskoye-Park ist. Die Tickets gelten nämlich anscheinend nicht überall, schon gar nicht die billigeren! Und ich weiss auch, dass die Anker-Künstlerin Zemfira erst ganz spät abends spielen wird. Mal sehen, ob ich das Ganze so lange aushalte. Ach ja, ich spreche über das Musik-Festival "Afisha Picnic" (picnic.afisha.ru), das heute das 14. mal stattfindet. Letztes Jahr waren 50'000 Besucher dort im Kolomenskoye Park.
09:13 Uhr
Die Müdigkeit der letzten Tage steckt noch in den Knochen, Aufstehen fiele jetzt schwer. Und ist doch eigentlich auch noch nicht nötig, oder?
09:55 Uhr
Frühstück: Müesli mit Ryazhenka (Yoghurtprodukt auf Basis gebackener Milch; Chemiker aufgemerkt: Maillard at work!). Daneben die Waschmaschine angeworfen.
13:56 Uhr
Nach Mittagessen (Rest vom Black Angus Steak, mit viel Knoblauch) und dem De-Blockieren des Wäschetrockners das Haus verlassen.
14:04 Uhr
Das Haus nochmal verlassen, diesmal allerdings eingecremt und mit der Sonnenmilch im Gepäck. Habe dann auch eine zusätzliche Troika-Karte für die Metro gekauft und mit 1000 Rubel versehen; Troika ist unheimlich praktisch, da wiederaufladbar. Metrofahrt nach Kolomenskoye, Metro war entgegen meiner Erwartungen nicht sehr voll.
15:25 Uhr
Erste Rast im Schatten neben dem SONY-Zelt. Škoda und H&M sind auch nicht weit, und es gibt Gutscheine für einen Maschinen-Haarschnitt. Das angeblich über Ballone verfügbare Yandex-WiFi ist "leider nicht erreichbar".
16:37 Uhr
So, der eine "fudcort" ist erforscht, irgendwann wird ja mal Abend und ich muss was essen. Ich leistete mir bei Tim-Tim ein Eis: Jack-Daniels/Nuss und Lime/Spinat - in einer schwarzen Waffel! Sah cool aus und schmeckte auch gut. Authentisch.
Jetzt bin ich eingetroffen an Bühne A, weil eigentlich "Kiesza" singen sollte. Es tut sich aber nichts. Doch, jetzt gerade, SIE SIND DA! Ich kenne sie ja nicht, aber vielleicht wird sie meine Lieblingsband für den Dancefloor. Die Bässe sind satt hochgeregelt, das ist schon mal gut. Kiesza singt etwas sopranistisch, aber sauber und mit Drive. Wow, die Moves! Handstand! Spagat! Achtung, muss mich konzentrieren.
17:52 Uhr
Arbeite mich vor zur Bühne B. Mal sehen was da geht. Kiesza war ganz gut, ihren letzten Song kannten (bis auf einen einzigen älteren Herrn) scheinbar alle.
Bühne B ist leer, aber gleich soll MOT auftreten. Neue Band, neues Glück!
18:39 Uhr
MOT singt immer noch (oder ist das doch SKRIPTONIT??), hat seinen Rap aber leider melodisch kaum weiterentwickeln können. Ich habe dafür inzwischen einen FARMA-Burger essen können, schwarzer Bun mit Sesam, innen Fleisch/Käse/Marmelade. Die Komponenten kannte ich vorher nicht, hatte mich an der Länge der Schlange orientiert. Die Wartenden bewegten sich alle langsam am Nachbarstand vorbei, der Müesli anbot und nichts verkaufte. Sozusagen ein "schwerer Stand"! Steht FARMA für "Farmer" oder "Pharma"?
19:09 Uhr
Die dichteste Packung von Menschen findet sich im (anscheinend winzigen) Funkradius unter den WiFi-Ballonen. Und dort wieder um die fest installierten Ladekabel! Hier kommt man sich näher! Es ist jedoch auf keinen Fall korrekt, dass diese Zonen gemischtgeschlechtlich angeboten werden: erstens wegen der Nähe (denkt an die Moral der Kinder!), zweitens hätten dann vielleicht auch Männer eine kleine Chancengleichheit für einen Kabelplatz. Es sind mindestens 3x soviele Frauen in der WiFi-Zone wie Männer!
Aber wie sonst auch hat eh niemand Augen für die Nachbarn, nur das Gorillaglas wird beäugt und gewischt! Das modere "Brett vor dem Kopf"!
19:18 Uhr
Habe einen Deutschen gesichtet. Mit Socken in den Sandalen und indischer Pumphose (längs gestreift). Habe mit tot gestellt bis er ausser Hörweite war.
19:42 Uhr
Ivan Dorn spielt, rappt auf Bühne A. Naja, nicht so mein Stil. Seine zahlreichen Mitstreiter auf der Bühne sind substantiell auch nicht weiter. Sie kommen aus der Ukraine, und grüssen das Moskauer Publikum. Das ist gut, denn die Leute hier im Publikum sehen nicht aus wie diejenigen, die schweres Geschütz befehligen oder Knebelverträge schliessen. Das Publikum liebt ihn!
20:52 Uhr
Die Sonne ist untergegangen, die Nebel steigen vom Wasser der Moskva auf. Gibt's sicher ein Volkslied drüber. Hölderlin hätte bestimmt dazu was geschrieben. Aber es wird kühl, und die Nebel stinken leider nach der Kläranlage vom anderen Ufer. Und der Nachbar auf der Wiese hat die Eiswürfel aus seinem Mojito in's Gras gekippt; jetzt kann ich mich nicht mehr mit der Hand hinten aufstützen. Die Knie tun auch schon weh, die aus den Jugendtagen gewohnte tigerhafte Geschmeidigkeit geht eben so langsam "den Bach ab".
21:20 Uhr
Es wird nun schon sehr kühl. Soll ich die Jacke anziehen? Dann sehe ich aber aus wie ein Müllmann mit gelber Warnweste!
21:48 Uhr
Ein Besuch im Pixi-Dorf steht an. Dank zweier Einweiserinnen geht die lange Schlange zügig durch, ist ja auch praktisch lange Wartezeiten zu vermeiden. Die beiden tun mir leid, das ist ein ...job!
22:18 Uhr
Heimfahrt. Zemfira hat mich nicht überzeugt. Nicht genug zumindest, um weiter feuchte Kälte und Gestank in Kauf zu nehmen.
Damit endet der Live-Ticker. Die Bilder kommen morgen, separat.
Ach ja, der Titel des Eintrags. Er sollte für meinen erwarteten Altersfaktor gegenüber dem Durchschnitt des Festivals stehen. Das war eindeutig pessimistisch. Ich schätze den Faktor jetzt eher ein als √3.