14. März 2017

731. Aus Altgläubigen wurden Semeiskiye

Die Region des heutigen Buryatien (östlich vom Baikal-See, rund um Ulan-Ude) hat eine lange und bewegte Geschichte im Spannungsfeld zwischen den russischen Zaren mit China und der Mongolai. In Zeiten, als es noch keine kartierten Grenzen gab, wurden Einflussgebiete mit verschiedenen herrschaftlichen Massnahmen markiert. Zarin Katharina z.B. siedelte ganze Völker um und schenkte ihnen im Gegenzug Freiheit - so gab es in Sibirien im Unterschied zu Rest-Russland nie Leibeigenschaft sondern nur "freie" Bauern. So ganz edel werden ihre Beweggründe für die Gewährung politischer Freiheiten allerdings nicht gewesen sein; sie hatte sicher auch Schwierigkeiten ihre Fürsten zur Übernahme von Lehen im kargen, unattraktiven und weit vom Hof gelegenen Sibirien zu motivieren! Und ohne Fürsten keine Leibeigenschaft!

Eine der übersiedelten Völkerschaften waren die Altgläubigen, eine Abspaltung (1666) der orthodoxen Kirche unter Patriarch Nikon. Sie lebten als recht geschlossene Gruppe nahe Polen, auf dem Gebiet des heutigen Belarus. Zarin Katharina fragte sie dreimal ob sie nicht nach Sibirien in's heutige Buryatien umsiedeln wollten. Das dritte Nein wurde nicht mehr akzeptiert, und so sind sie eben heute die Einwohner des Tarbagataiystvo Rayons! Katharinas Hauptmotiv für die Umsiedlung war das Know-How der Altgläubigen im Getreideanbau: die in Buryatien vorher exklusiven Mongolenstämme waren Nomaden mit fast ausschliesslicher Fleischkost - mit entsprechend schwacher Konsitution im Winter, wenn sie Brot gebraucht hätten. Die Altgläubigen machten mit ihrem Getreide, ihrem Fleiss und ihrer Sesshaftigkeit anfangs sehr gute Geschäfte, denn sie konnten das wenige und teure importierte Getreide leicht preislich unterbieten und dennoch guten Gewinn machen. 
Im Lauf der Zeit und mit zunehmender Distanz zum orthodoxen Patriarchen ist die Bedeutung der Religion zurückgegangen. Sie sind noch eine eigene Religionsgemeinschaft mit eigener Liturgie, nennen ihre Gemeindemitglieder im sozialen Kontext heute aber "Semeiskiye", was soviel heisst wie "die im Familienverbund Lebenden". 2001 erklärte die UNESCO die Kultur der Semeiskiye zum ideellen Weltkulturerbe!


Die Selenga mäandriert weit ausholend durch ihr Tal. Die Eisdecke war dünn und mancherorts schon gebrochen, Autospuren (alte?) sah man auf dem Fluss trotzdem. Der Aussichtshügel war das Territorium eines jungen grauen Schäferhund-Mischlings, der uns in sein Herz schloss; auf der Rückfahrt hielten wir wieder dort an, damit Lena ihm etwas Fleisch von unserem Essen hinlegen konnte. 

 
 
Die Dörfer der Semeiskiye sind überdurchschnittlich gut gepflegt, die Häuser bunter als sonst. Hinter den dicken Kiefern- und Lärchenbalken verbirgt sich aber wohl Tristesse, Abwanderung und Arbeitslosigkeit. Nach der Auflösung der grossen Kolchose knüpften die Altgläubigen nicht an ihren einstigen Eifer in der Landwirtschaft an und warteten auf Rettung von irgendwoher - aber nicht aus eigenem Kopf, Können und ihren Armen. Wir sahen noch die in den letzten 25 Jahren überwucherten Felder, die sich langsam (vielleicht auch aufgrund ungeklärter Rechtsverhältnisse oder Spekulation) in Wälder verwandeln. Einen Besuch wie unseren kann man jedenfalls auch begreifen als Anschubhilfe einer neuen Tourismusbranche. 



 
 
Unkaputtbare Steampunk-Schiffsschaukel. 

 

Die Inneneinrichtung schien "europäischer" als bekannt, vielleicht bedingt durch den geographischen Ursprung der Altgläubigen nahe Polen. 



Im zweiten Museumshaus stand das Essen für uns parat. Zentral die Karaffe mit dem eigenen Samogon, dem wir gut zusprachen (als wir gingen, war sie nur noch halb voll). Es gab einen Teller heisser Kohlsuppe ("Shi") und Fleisch mit Kapü, und viele Vorspeisen. We didn't go hungry!

 

Vor und während des Essens gab es polyphonen Gesang, und - ach du Schreck! - eine Verkleidungs- und Hochzeitszeremonie. Tatsächlich wurde mir die prächtig geputzte Braut Ulrike in Sorge übergeben, nicht ohne vorher noch einen Preis dafür verhandelt zu haben. Ich zahlte bar in die bereitgehaltene Schürze der Chorchefin, und so habe ich meine Ulrike nochmal geheiratet!

Wir wurden lieb und herzlich verabschiedet. 

 
 
Es war schon fast dunkel als wir uns Ulan-Ude wieder näherten. Aus dem fahrenden Auto photographierte ich noch die einspurige (!) Bahnlinie nach Ulan-Bator in der Mongolei. Der Fahrer schlug vor, für das Photo kurz auf den Gleisen zu halten, aber es ist so ja auch gut genug. 

 
 
Bevor wir zum Bahnhof fuhren, machten wir noch eine Stadtrundfahrt (Lenin bei Nacht) und einen Ausflug in einen Vorort zu einem sehr persönlichen Ziel. 

Am Bahnhof verabschiedeten wir uns von Lena. 

 

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