3. Juli 2019

794. Bellsund

Die zweite Nacht an Bord war unruhiger und kürzer als die erste. Hauptgrund für die Unruhe war das starke Rollen des Schiffs, das mich im Bett von Seite zu Seite warf und damit immer ein wenig aufweckte. Um halb Vier warf das Schaukeln in der Kombüse über meiner Kajüte wohl einen Topf aus dem Regal: es schepperte laut und der Topf rollte eine lange Weile über den Fußboden bis er sich wohl irgendwie stabilisierte oder jemand Erbarmen hatte. Und die Kürze der Nacht war durch das Licht draußen bedingt, denn erst um halb Zwölf schaute ich im Salon das erste Mal auf die Uhr. Vorher dachte ich, dass bei Tageslicht draußen doch noch nicht an Schlafen zu denken wäre!

Rolf informierte uns beim Frühstück, dass die Antigua in der Nacht einen Notruf erhalten hatte von einer 8 Seemeilen (15 km) entfernten Privatyacht in Seenot. Allerdings schickte die Seerettung in Longyearbyen einen Superpuma mit Seilwinde und kurbelte die Passagiere hoch; zwei konnten an Bord bleiben und die Yacht zum Glück stabilisieren. Rolf teilte uns auch mit, dass der Wetterbericht für die Kapumrundung und die Ostküste über Nacht sehr schlecht („tiefrot“) geworden sei und wir daher in den Bellsund an der Westküste blieben und das Wetter dort wandernd aussitzen. 

Und wir Teilnehmer waren uns im Nachhinein einig, dass dies eine gute Entscheidung der Reiseleitung war. (Hinter vorgehaltener Hand bemerkten bösartige Teilnehmerïnnen, dass Rolf uns ja jeden passenden Wetterbericht präsentieren könnte, denn ohne Internet können wir ja eh nichts unabhängig nachprüfen! Aber natürlich trauen wir ihm das nicht zu!)



Die Vormittagstour war etwa 4,7 km lang und dauerte über drei Stunden. Wir erwanderten die frische, unberührte und unbewachsene Schüttung der Seitenmoräne eines schrumpfenden Gletschers und sahen wunderbar strukturierte Stein-Konglomerate.  









Am Strand hatte ein wohlhabender Engländer 1904 eine Hütte errichtet. Daneben lagen noch zwei imposante Steingräber von Kapitänen und rostende Anker und Loren. 











Unser Weg wurde oft erschwert durch breite und tiefe Ströme von Fließerde, eine Frau fiel darin um und verlor einen Stiefel; beim Rettungsversuch von Frau bzw. Stiefel versank auch ihr Mann. Ich stand günstig und konnte Frau mit Stiefel aus dem Feld herauslotsen, den Mann aber nicht. Die Frau war mir dann sehr dankbar, den Mann musste ich mit einem Ricola-Bonbon „auf den Schreck“ dagegen etwas besänftigen. 



Nach dem Ausflug und dem Mittagessen im warmen Salon war ich etwas müde und nutzte die Mittagspause für ein wohltuendes Power-Nap. 

Aber um halb Vier ging es wieder los, auf der anderen Seite des Fjords. Das Aufsitzen auf die Zodiacs klappt schon gut, nur das obligatorische Ein- und Austragen in die Landganglisten muss ich (nach erster Mahnung durch die 2. Steuerfrau Yannike!) noch verinnerlichen. 

Unser Guide war die sehr kenntnisreiche und sympathisch sächselnde Ärztin Christina. Die führte uns an der Geröllhalde einer Felswand entlang, als der Berg oberhalb unheimliche Geräusche knackenden Felses abgab. Schaurig! Wir guckten gebannt auf das erwartete Unheil, aber es kam nur eine Handvoll fußballgroßer Steine herabgekullert. Wir wurden entschädigt durch eine kleine Herde wilder Rentiere, die voller Neugier und ohne jede Scheu bis auf 10 Meter an unsere hektisch fotografierende Gruppe herankamen. Später sahen wir noch die große Seltenheit eines Rentier-Muttertiers mit zwei (!) Kälbern. 












Höhepunkt der Wanderung war die Einsicht in einen tief in Karbonatgestein eingefressenen Canyon, mit rostbrauner Schneebrücke. Die Wände des Canyons zeigten starke Verwerfungen aus der Zeit, als Spitzbergen und Grönland noch auf einer tektonischen Platte zusammenhingen, die sich gerade aus Pangäa herausgelöst und die Bildung des Atlantiks vorgenommen hatte. 



Meine „Schlaue Frage des Tages“ von heute machte anscheinend schon die Runde unter den Guides, eine Antwort gab es noch nicht (kein Wunder ohne Wikipedia!). Wir sahen eine Kleinstpflanze, runde grüne Blätter von vielleicht 5 mm Durchmesser, das ganze Ding 1-2 cm hoch. Die Pflanze wurde als Salix polaris bestimmt, also ein Mitglied der Familie der Weidengewächse. Meine Frage war dann, was wohl Linné dazu gebracht haben mag zwischen der uns allen bekannten Bach-Weide und dieser Pflanze Verwandtschaft zu finden. Die Vermutungen reichten von „verholzend“ über „zweihäusig“ bis „Salicylsäure-haltig“ - aber bisher ohne zwingende Erklärung. 

Beim Abendessen erfuhren wir dann von Rolf, dass das Ostküsten-Wetter sich noch weiter verschlechtern würde; daher fahren wir jetzt in der Nacht wieder zurück in den Norden der Westküste. Es kann gut sein, dass wir dann gutes Treibeis sehen. Mit unserem Sichtungs-Glück vielleicht sogar einen Narwal!

Kapitän Robert





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